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Tattoo Spirit  Nr. 14 April 2005

Studiovorstellung Schwerpunkt Marc D.
6 Seiten

Bericht PDF-Datei 1,43 MB

Das Nightliner Tattoostudio in Berlin

Mittwoch, 09.03.2005, 15:30 Uhr, Berlin Ostbahnhof. Ich bin noch gut in der Zeit und eine freundliche Stimme am Telefon erklärt mir, dass ich nur noch wenige S-Bahnstationen von meinem Ziel entfernt bin. Nur bei welcher ich einsteigen musste, konnte sie mir nicht sagen. „Na dann sehen wir uns ja gleich.“
Die junge Dame an der Auskunft gibt sich hilfsbereit – und steckt mich prompt in die falsche Bahn. Diese führte mich zwar auch zur richtigen Haltestelle, aber erst nach fünfundzwanzig bis dreißig, statt nach sechs Stationen. Ich glaube an das Gute im Menschen. Vielleicht wollte mir die junge Dame von der Auskunft ja nur die dicht verschneite Hauptstadt ein wenig näher bringen. Egal, ich war noch immer gut in der Zeit, denn Ziel meiner Reise war das Studio von Marc D., dem ‚Nightliner‘.
Diesen Namen trägt er nicht umsonst, auch wenn seine Arbeitszeiten mittlerweile nicht mehr ganz so oft bis spät in die Nacht reichen, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war.

Text: Arno Joosten (Tattoo Spirit) | Fotos: Arno Joosten (Tattoo Spirit) und Nightliner Tattoo Berlin

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Die richtige Straße war schnell gefunden, und ich begab mich auf die Suche nach Hausnummer 71. 17, 18… mein Gott sind die Häuser hier breit… 22, 23… schnell vorwärts kommen geht irgendwie anders. 34, 35… Ich stapfe noch immer durch den Schnee und… erstarre beim Blick auf die andere Straßenseite fast zur Salzsäule:
Die höheren Hausnummern verlaufen dort in entgegengesetzter Richtung. Also den ganzen Weg wieder zurück. Als ich endlich an mein Ziel gelange, ist es bereits weit nach 17:00 Uhr und so langsam setzt die Dämmerung ein. Passend zum Namen des Studios.
Der Laden ist schon recht voll und ich höre wieder die freundliche Stimme von vorhin: „Da bist Du ja endlich. Wir dachten schon Du bist verloren gegangen.“ Grummel, eins steht fest: Zurück geht es mit dem Taxi!
Seit meinem letzten Besuch sind bereits drei oder vier Jahre vergangen und ich habe das Gefühl, dass es hier mittlerweile ein wenig ruhiger zugeht. Ein reges, dennoch ruhiges Treiben. Die Hektik früherer Tage scheint in den letzten Jahren einer gewissen Gelassenheit gewichen zu sein, was mir Marc auch später bestätigen sollte: „Anfangs ging hier alles sehr schnell voran. Ständig hat sich etwas verändert. Inzwischen hat sich aber die Ruhe eingestellt, die wir gesucht haben.“
Nightliner Tattoo ist nicht gerade ein kleines Studio. Neben Marc arbeiten hier mit Lars Uwe, Zappa, Marc’s Bruder Niko und Peter, der abwechselnd ein halbes Jahr in Berlin und die andere Hälfte in seinem Wuppertaler Studio verbringt, vier weitere Tätowierer. Dazu kommen noch Jenny und Micha, die für die Piercings zuständig sind. Micha ist Mitglied im 1.OPP e.V. (Erste Organisation professioneller Piercer) und auf Intimschmuck spezialisiert. Er ist es auch, der mich in einen der hinteren Räume führt, wo sich Marcs Reich befindet. Als ich eintrete, sitzt er noch vor einem der Rechner, die sich dort befinden. Marc ist nicht nur ein exzellenter Tätowierer, ganz nebenbei gestaltet und programmiert er auch noch den Internetauftritt seiner Studios. Sozusagen ein Multitalent. Ein Blick auf die informativen Seiten www.tattoonight.de und www.loxodrom.de lohnt sich allemal. Das Loxodrom ist übrigens Marcs zweites Studio, in dem drei weitere Tätowierer arbeiten.
Als wir so zusammensitzen, erzählt er von früheren Tagen. Marc kommt aus dem Ostteil Berlins. Als er mit dem Tätowieren anfing, war an eine Maschine nicht zu denken, was sich auch erst nach dem Fall der Mauer ändern sollte. Vorher war es mit Nadel, Faden und Tusche noch echte Handarbeit. Tätowieren war in der Ex-DDR zwar nicht wirklich verboten, sondern wurde geduldet, eine Szene gab es allerdings auch nicht wirklich. Ein Meilenstein in seiner Karriere war dann 1995 die Begegnung mit Freddy aus Wien, von dem er selber sagt, dass er seinen Bekanntheitsgrad ihm zu verdanken hätte und ohne ihn wahrscheinlich noch in irgendeinem Kämmerlein hocken würde. Überhaupt hätte er seine Laufbahn mehr oder weniger Zufällen zu verdanken. Doch wenn ich mir seine Arbeiten anschaue, kann ich das nicht so ganz glauben. Ausgestattet mit soviel Talent, hätte Marc seinen Weg so oder so gemacht.

Was seinen Stil angeht, liebt er die Abwechslung. Sehr wichtig ist ihm, dass sich keine langweilige Routine einstellt. Realistische Schwarzweiß-Arbeiten gehören allerdings zu seinen bevorzugten Motiven. „Am liebsten sind mir dabei realistische Arbeiten, die durch eine Fotografie eindeutig vorgegeben sind und ich sie 1:1 kopieren kann, ohne zu hinterfragen was mir an der Vorlage unlogisch erscheint. Denn Fotos lügen nicht. Was sich letztendlich auch immer wieder als richtig herausstellt. Ich freue mich auch sehr, wenn jemand kommt und seine Tochter, seinen Onkel oder ähnliches von mir tätowiert haben möchte, auch wenn ich das nicht jeden Tag haben will. Die Abwechslung macht es.“
Marc auf realistische Arbeiten zu reduzieren, wäre aber absolut falsch. Das wäre so, als wenn sich ein Sternekoch auf Kalbsbraten beschränken würde. In erster Linie sieht er sich als Dienstleister, der alle Kundenwünsche erfüllt. Es sei denn, er sieht diesen Wunsch als unlogisch oder sinnlos an.
Dann sag ich ihm lieber: „Du, tu Dir selbst den Gefallen und lass das. Weil, es passt einfach nicht.“
Das hat dann aber nichts damit zu tun, dass er keine Lust auf die Arbeit hat. Vielmehr sieht er sich dem Kunden gegenüber in der Verantwortung, ihn vor offensichtlichen Fehlern zu bewahren. Ein Beleg dafür, dass man sich in vertrauensvolle Hände begibt. Das stellt er auch dann unter Beweis wenn Kunden so genannte ‚Customarbeiten‘ wünschen.
„Die meisten Leute wollen natürlich etwas Eigenes haben, was ich ihnen dann auch gerne entwerfe. Im Endeffekt, über die Jahre hinweg, wiederholt sich aber alles wieder, was auch logisch ist. Man hat ja schließlich seine eigene Handschrift, um etwas darzustellen. Es ist dann nicht genau dasselbe, aber schon ähnlich.“
Leider lässt sich die Zeit nicht anhalten und ich vermute, dass mein Zug in Richtung Heimat nicht auf mich warten wird. Diesmal geht es aber mit dem Taxi zum Bahnhof. Als ich im Zug sitze, will mir eins nicht aus dem Kopf gehen: Es sind immer wieder die besonders guten Tätowierer wie Marc, die sich selbst als Dienstleister oder Kunsthandwerker, jedoch nie als Künstler bezeichnen. Mit der Begründung, dass ihre Arbeiten schließlich Auftragsarbeiten wären.
Der Vergleich mag jetzt sicherlich ein wenig weit hergeholt sein, aber die berühmtesten Werke Michelangelos waren eben auch genau das: Auftragsarbeiten.

Quelle:  Tattoo Spirit